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22.05.2025

Zu flinke Finger


Es ist noch gar nicht so lange her, da hat Dan Bewley einen der Sätze des Motorsportjahres geprägt. Jene Schreibtischtäter, die an der heimischen Tastatur in den Sozialen Netzwerken über Leistungen und Charaktere von Rennfahrern urteilten, sagte der Speedway-WM-Star aus dem Nordwesten Englands, seien „not the most clued-up people“. Soll heißen: Diese „Keyboard Warrior“ hätten meist keinen Schimmer, worüber sie sich in der digitalen Parallelwelt auslassen.

Bewley fand das „respektlos“ gegenüber den Sportlern und redete sich in einem Livestreaminterview vor dem Finale der Britischen Speedwaymeisterschaft reinweg in Rage. Dabei konnte der Rotschopf aus Cumbria zu dem Zeitpunkt noch gar nicht ahnen, wie weit die Social Media-Hatespeech-Angelegenheit in den Tagen danach wirklich entgleisen sollte – in der Formel 1, rund um den Fahrerwechsel von Jack Doohan zu Franco Colapinto bei den Hinterbänklern von Alpine.

Argentinische Rennsportfans sind offenbar noch ein gutes Stück mehr Hardcore unterwegs als englische Speedwayfreunde. Man hätte gewarnt sein können. Vor zwei Jahren fuhr Augustín Canapino in der IndyCar-Serie, also der höchsten Formelsportserie in den USA und Kanada. Canapino hatte zuvor als Späteinsteiger nur einen Markenpokal und eine nationale Tourenwagenserie in Argentinien bestritten, hielt sich aber für talentiert genug, nun die stark besetzte IndyCar zu erobern.

Kurz gesagt: Er war es nicht, und sein Team tauschte ihn recht bald aus. Woraufhin es einen Hagel von wüsten Beschimpfungen, Prügel- und sogar Morddrohungen gegen den Nachfolger von Canapino gab. In den Sozialen Netzwerken. Die Kommunikation entgleiste derart, dass sogar die Polizei mit einer eigenen Ermittlungsgruppe für Verbrechen im Internet eingeschaltet werden musste.

Jetzt folgt die nächste Woge digitaler Entgleisungen. Franco Colapinto wird in der Formel 1 von gewissen Kreisen gehypt, seit er bei Williams als Ersatzmann ein paar gute Rennen gefahren hat. Dass seine Formkurve dann im selben Maße nach unten schnellte wie seine Unfallhäufigkeit rauf, übersahen die Argentinier geflissentlich. Sie dichteten ihm sogar eine optische Ähnlichkeit mit Ayrton Senna an, um übersinnliche Mächte für das Megatalent ins Spiel zu bringen.

Doch nur weil jemand jeden Tag Luftgitarre spielt, wird aus dem nicht der nächste Yngwie Malmsteen.

Colapinto ist auch nicht aufgrund seines Talents in der Formel 1, sondern weil er große Förderer aus der argentinischen Wirtschaft hinter sich weiß. Die haben schon bei Williams für seinen Einsatz bezahlt – und kamen auch mit Werbespots mit dem Neu-Grand Prix-Piloten um die Ecke, kaum dass dessen Einwechslung bei Alpine bekannt gemacht wurde. Bei Alpine zählt nicht Leistung, sondern Geld, denn das Team der kriselnden Renault-Marke steht latent in der Gefahr, vom Mutterkonzern geschlossen zu werden – es ist so schlecht, dass es der Marke keinen Werbewert bringt, sondern im Gegenteil eher eine Rufschädigung. Also sichert Flavio Briatore, der seit einem knappen Jahr wieder aus der Formel 1-Verbannung aufgetaucht ist, die Existenz durch externe Geldquellen mit ab.

Das aber mögen die Argentinier nicht wahrhaben. Und die Ultras unter ihnen griffen zum nächsten Kunstgriff. Irgendein ultra Ultra legte daraufhin ein Fakeprofil an, das aussah, als käme es von Mick Doohan – dem Vater des ausgebooteten Australiers, der selbst eine große Nummer im Motorsport ist: Mick Doohan war einer der besten Motorradrennfahrer der Welt, als die MotoGP noch WM hieß und mit 500-Kubikmaschinen ausgetragen wurde. Später fuhr er an der Seite von Armin Hahne DTM und bestritt die Australische Supercar-Meisterschaft für V8-Tourenwagen, ging auch bei den 24 Stunden von Le Mans an den Start.

Das Fake Account meldete sich mit einer höchst spöttischen Einlassung über die Leistung von Ersatzmann Franco Colapinto zu Wort. Doch Familie Doohan wies jede Beteiligung von sich – und konnte nachverfolgen, dass das Konto aus Argentinien stammte. Der Ultra verfolgte offenbar das Ziel, die Doohans bei Alpine zu diskreditieren – um so mittelbar zu verhindern, dass Jack Doohan bei vergleichbar mageren Leistung von Colapinto doch wieder ins Cockpit zurückkehren könne.

Wenn es nicht so krude wäre, könnte man direkt drüber lachen.

Aber das doppelt um die Ecke Gedachte ist nur die Spitze von Verunglimpfungen und Einträgen in Social Media, die rund um Colapinto auftauchen. Dass dem Fahrer selbst all’ das furchtbar unangenehm ist, schert die Gaucho-Ultras nicht. Sie pöbeln weiter wie einst Klaus Kinski.

Scheinbar sind solche Auswüchse auch das Produkt der fortschreitenden Trivialisierung des Motorsports durch Formate wie vermeintliche Dokus à la Netflix, die suggerieren: Rennfahren ist ein einziges großes Spiel, das jeder könne. „Drive to Survive“ über die Formel 1 war dabei der Startschuss, inzwischen zieht sogar die NASCAR – die lukrativste Rennserie der Welt – nach. Dadurch wird dem Sport aber ein großer Teil ihrer Faszination und ihres Mythos’ genommen. Und solche Formate locken Zuschauer an, die wegen des Spektakels statt des Sports kommen – und die Dan Bewley so schön als weitgehend schimmerlos charakterisiert hat.


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