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30.06.2022

Schnell ist nicht gleich schnell


Die Zahlen lügen nicht. 90 zu 22 – das ist die Punkteausbeute von Max Verstappen im Vergleich zu Charles Leclerc aus den vergangenen vier Rennen. Die Konsequenz daraus ist eindeutig: Verstappen hat inzwischen das Zepter in der WM so fest im Griff, dass er sich sogar Nuller leisten kann – und immer noch vorn bleibt. Während Leclerc auf Gedeih und Verderb auf Angriff fahren muss – und das geht nur, wenn der Monegasse auch fahrerisch deutlich mehr riskiert als bislang.

Zu oft fehlt ihm das letzte Häppchen Aggressivität, das einem Verstappen oder auch einem Lewis Hamilton innewohnt. Wo die beiden gnadenlos reinhalten, zieht Leclerc bislang eher zurück – um an die sicheren Punkte zu denken statt Gefahr zu laufen, punktelos auszutrudeln, weil sein Gegner im Zweikampf nicht nachgegeben hat. Einen solchen Lapsus, als er zu viel riskierte, hat er dieses Jahr schon mit einem Nuller bezahlt. Das hat ihm die defensiv-intelligente Fahrweise eines Alain Prost aus den Achtzigern und frühen Neunzigern nur noch mehr ins Lastenheft geschrieben.

Doch ab sofort kommt der Ferrari-Pilot mit dieser Denke nicht weiter. Er muss Verstappen schlagen – koste es, was es wolle. Sonst kann er dem abfahrenden WM-Zug nur noch winkend hinterherschauen.

Beim Rennen in Montréal hat Leclercs Teamkollege vor allem im zweiten Törn gezeigt: Der Ferrari ist das schnellere Auto im Vergleich zum Red Bull. Die Nuance hat nicht gelangt, um Carlito eine echte Angriffsmöglichkeit zu eröffnen. Doch die Tendenz ist klar: Ferrari ist nicht unterlegen, sondern macht nur zu wenig aus den Möglichkeiten.

Silverstone ist eine andere Bahn als jene, auf denen zuletzt gefahren wurden: schnell – so schnell, dass die Autos extrem anfällig für plötzliche Seitenwindböen werden und von denen prompt förmlich aus der Bahn gepustet werden können.

Vor allem aber braucht man auf den früheren Verbindungsstraßen zwischen den Landebahnen eines alten RAF-Luftwaffenflughafens eine stabile Vorderachse, über die man die Front des Wagens präzise und punktgenau auf eine Linie positionieren kann, auf der man viel Tempo in der Kurvenfahrt bis zum Scheitelpunkt mitnehmen kann. Die Vorderreifen gelten in Silverstone als jenes Element, das zur größten Schwachstelle für die Leistungsfähigkeit der Gesamtkonstruktion werden können – während es etwa in Montréal und Baku die Hinterreifen waren, denn dort brauchte man vor allem eine stabile Hinterachse, auf die man sich lehnen kann, um möglichst viel Traktion für eine frühe Beschleunigung aus schnellen Ecken zu generieren.

Schnell ist also nicht gleich schnell, wenn es um die Charakteristik von Rennstrecken und deren Layouts geht.

Silverstone belohnt – mehr als jede andere Piste – die vielzitierte aerodynamische Effizienz. Also die Möglichkeit, ein Auto mit möglichst wenig Luftwiderstand hinzustellen, ohne dass dessen insgesamt erzielter Abtrieb darunter leidet. Und gerade da hat Ferrari in diesem Jahr schwer auf Red Bull, dem bisherigen Platzhirsch in genau dieser Disziplin, aufgeholt.

In England lohnt sich der Blick aufs Untergeschoss der Heckflügel. Riskiert Ferrari, den sogenannten „Beam Wing“ im gleichen Ausmaß zurückzustutzen wie Red Bull?

Dieser Beam Wing spannt sich wie der Flügelschlag einer Möwe unten, zwischen den Hinterrädern, vom Getriebe respektive dem daraus nach hinten rauswachsenden Heckaufprallschutz übers Diffusordach zu den Außenblättern des Heckflügels. Red Bull hatte die Wölbung bislang mit einem Doppeldecker-Flügel versehen – und so dafür gesorgt, dass auch der Beam Wing wie ein Minidiffusor mit sich beschleunigenden Luftmassen zwischen den beiden Wölbungen funktioniert. Doch im Laufe des Sommers opferten die Weltmeister die oberste Krümmung zugunsten von weniger Luftwiderstand.

Kriegt Ferrari einen ähnlich effizienten einsamen Möwenschlagflügel hin wie Red Bull? Dann dürfte im Zusammenspiel mit einem neuen oberen Hauptblatt des Heckspoilers, der bei aufgeklapptem DRS-Spalt mehr Luft durchlässt und in der Form eines liegenden Schießbogens daherkommt, ein großes Manko der Roten passé sein: die mangelnde Überholfähigkeit.

Sainz fuhr in Montréal, als er sich am führenden Red Bull von Verstappen aufarbeitete, noch den alten Heckflügel – ohne das geschwungene Hauptblatt. Der provoziert mehr Luftwiderstand, wird aber für Silverstone für beide Fahrer zugunsten der windschnittigeren Variante aussortiert. Man hat die neue Form zuletzt in Mugello getestet.

Die Gretchenfrage ist nun: Hat man dabei einen Weg gefunden, den Beam Wing auf nur einen Möwenflügelschlag zu reduzieren – oder muss man weiterhin mit einer Doppelstruktur zwischen den Achsen fahren? Nur die Monolösung sorgt dafür, dass die Ferrari beim Topspeed und beim Beschleunigungsvermögen auf Augenhöhe mit den Red Bull sind – und nur dann kann Leclerc mit einer aggressiveren Fahrweise Verstappen den Fehdehandschuh hinwerfen.

Einen Vorteil hat der Monegasse gerade auf einer Powerstrecke wie Silverstone: ein ganz frisches Aggregat. Die Motor- und Hybrideinheit ist gerade erst in Montréal gewechselt worden. Ferrari hat dafür in Kanada Strafen in Kauf genommen, dabei strategisch gedacht – um in Silverstone dasjenige Auto zu haben, das den frischesten und damit leistungsfähigsten Motor an den Start bringt.


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