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28.07.2024

Orange is the New Depp


Die Flinders Street Station ist einer der wichtigsten Knotenpunkte im ÖPNV von Melbourne. Und an einer ihrer Ecke steht ein kleiner Lebensmittelladen, grad so, wie man ihn bis vor 15 Jahren auch noch in jedem ostfriesischen Dorf finden konnte.

In diesem Food Store gibt es „Pure Milk“, die Leuchtreklame wirbt für „VB“ – also „Victoria Bitter“, das berühmteste Bier in Australien, das man dort aus „Stubbies“ trinkt: kleine Flaschen, ein bisschen wie die Knollen norddeutscher Marken, allerdings deutlich abgerundeter und weniger konturiert, eher knubbelig. Und an der Seite neben dem kleinen Laden schwankt eine verwittertes Holzwand im Wind – eine Fläche für Werbeplakate.

Seit dem vergangenen Montag kleben gleich vier Konterfeis auf dieser platten Litfasssäule. Aus der Ferne sehen sie aus wie Werbeplakate. Doch stattdessen zeigen sie alle – Oscar Piastri. Der Melburnian ist seit seinem Sieg beim Grand Prix von Ungarn der neue Held der südwestaustralischen Metropole – obwohl er längst in Monaco lebt und seine Heimatstadt bestenfalls im Winter für ein paar wenige Monate besucht, und natürlich im Vorfeld des Heimrennens im Albert Park.

Piastri hat der Formel 1 neues Leben eingehaucht. Denn nach Jahren der Dominanz von jeweils einem Fahrer – zuerst Lewis Hamilton, dann Max Verstappen – macht sich nun die Hoffnung breit, dass neue Laufsieger nicht nur gelegentliche Leuchtturmfeuer sind, sondern dass die Platzhirsche einen neuen Herausforderer auf Augenhöhe bekommen haben. Piastri hat von seinen Grundanlagen deutlich mehr Potenzial als sein McLaren-Teamkollege Lando Norris, bisher das am höchste gehandelte New Kid on the Block.

Dass Norris nicht aus jenem Holze ist, aus dem Superstars geschnitzt sind, haben die Vorkommnisse von Budapest gezeigt: Ein echter Überflieger mit absoluten Siegergenen hätte sich niemals der unsinnigen Stallregie gebeugt, sondern den Sieg auch entgegen der Weisungen über Funk nach Hause gefahren. Beispiele dafür gibt es genug: Michael Schumacher, Sebastian Vettel und Ayrton Senna sind nach Ungarn zu recht oft genug ins Felde geführt worden. Aber auch im Tourenwagenbereich kann man sich genau angucken, wer Superstar ist und wer nur Rennsportzinnsoldat. Rickard Rydell aus Schweden, Yvan Muller aus dem Elsass oder Andy Priaulx von der Kanalinsel Guernsey sind andere Kaliber als das willfährige fahrende Volk des DTM.

Stallregie ist des Teufels. Es gibt nur eine einzige Ausnahme: Wenn kurz vor Saisonende klar ist, dass nur noch ein Fahrer eines Teams realistische WM-Titelchancen hat. Dann, und nur dann, ist es vertretbar, dass sein Teamkollege sich unterordnet und dafür kämpft, seinem WM-Aspiranten im anderen Auto nicht nur den Rücken freizuhalten – sondern auch dessen Titelrivalen Punkte zu klauen. Dann gehören auch dirigierte Platzwechsel zum statthaften taktischen Repertoire.

Aber das vorletzte Rennen vor der Sommerpause kann man auch mit viel gutem Willen nicht in die Zeitschiene „kurz vor Saisonende“ pressen. Zu dieser Zeit muss gelten: Freie Fahrt für freie Bürger.

Allerdings hat McLaren in der Puszta bewiesen, wie weit der Fachkräftemangel inzwischen auch in der Formel 1 um sich greift: Man hat kein fähiges Personal an der Boxenmauer. Das Dilemma zeichnete sich schon vor dem Stallregiedrama ab – im Training. Vor einer Session wollte Tom Stallard, der Renningenieur von Piastri, seinen Schützling – wie üblich – darüber informieren, wer auf welchen Reifen an der noch roten Ampel am Boxenausgang direkt vor ihm und hinter ihm steht, damit der Fahrer sich darauf einstellen kann, wer mit wie harten Bandagen und welcher Taktik zu Werke gehen wird. Stallard aber entblödet sich nicht zuzugeben, er könne nicht genau erkennen, ob es sich beim Hintermann um Daniel Ricciardo oder dessen Teamkollegen Yuki Tsunoda handele.

Nun ist es nicht nur eine Kernaufgabe des Renningenieurs, sich in dieser Phase eines Rennwochenendes genau darauf zu konzentrieren, wie die Abläufe einer Trainingssitzung sieht. Ein Blick auf den Helm des Vorbeifahrenden hätte gereicht, oder auch aufs GPS auf dem Monitor vor ihm. Hat Stallard stattdessen Katzenvideos geschaut? Jedenfalls darf solch’ eine Unkonzentriertheit auf diesem Niveau nicht vorkommen. Generell nicht – aber erst recht nicht bei den Rahmenbedingungen weiland in Budapest. Da hatte Tsunoda nämlich gerade einen kapitalen Unfall gebaut und seinen Wagen einen Kopf kürzer gemacht. Darum musste sich Piastri nach dem verblüffenden Funkspruch auch erst mal sammeln, ehe er dann mit typisch australischem Humor derbe antwortet: „Tsunoda fehlen ein paar Räder. Ich glaub’ nicht, dass der noch viele Runden fahren wird.“ Stallard meint nur mit hörbarer Schmallippigkeit eines Ertappten: „Berechtigter Einwand.“

Hätte Stallard die Entwicklung des Rennens dann später wenigstens richtig gelesen, so hätte er Piastri früher zum Routinestopp reinbeordert als Norris. Dann wäre der Positionswechsel an der Box, der den späteren Platztausch auf der Strecke erst nötig machte, überhaupt nie passiert. Beispiele, dass ein solcher „Undercut“ – also ein frühere Stopp als der direkte Gegner – in Ungarn immer was bringen, gab es nicht nur anno 2024 genug. Die Auswirkung dieser Taktikvariante ist auf der engen Bahn in der Puszta seit Jahren bekannt. Und man kann all’ das in den Simulationsprogrammen der Strategieingenieure für die möglichen Rennverläufe ganz exakt durchrechnen: anhand von Länge der Boxengasse, Durchschnittstempo der Strecke und Zeitenentwicklungen über einen Törn hinweg bei schlechter werdendem Reifen, aber auch leichter werdendem Wagen mit weniger Benzin im Wamst.

Aber bei McLaren denken sie immer noch aus der Rolle des Verfolgers heraus. Nicht aus der Position jener Stärke, jener Überlegenheit, die man als Taktgeber des ganzen Rennens in Ungarn hatte – und aus der heraus man taktisch anders, konventioneller agieren muss als ein Verfolger, der mehr auf Risiko setzen muss, um den Dominator irgendwie zu übertölpeln. McLaren war in Ungarn noch nicht in der neuen Gegenwart der Formel 1 angekommen.

Sonst hätten sie nicht gleich den zweiten kapitalen Denkfehler gemacht: Selbst wenn Piastri den Sieg theoretisch verdient hätte, so hätte die Stallregie – wenn überhaupt – nur in die entgegengesetzte Richtung greifen dürfen: um Lando Norris zu begünstigen. Denn der ist von den beiden Orangenen nun mal derjenige, der in der WM-Tabelle dichter an Verstappen dran liegt. Wenn auch die nächsten Updates bei Red Bull nicht sitzen und McLaren sich als schnellstes Auto etabliert, dann kann nur Norris Verstappen noch einfangen.

Wenn überhaupt. Die Chance ist denkbar gering. Aber um sie zu maximieren, hätte das Team ihm auf keinen Fall per Teamorder einen Sieg und damit mehr Punkte klauen dürfen. So wird eine verwerfliche Stallregie am Ende sogar noch in die Unsinnigkeit weiter verdreht.


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