28.07.2022
Das Unausweichliche zog sich ziemlich in die Länge. Aber es geschah doch: Sebastian Vettel hört auf. Auf eine gewisse Art und Weise unfreiwillig: Hätte er eine Perspektive gesehen, wieder um Siege zu fahren, dann hätte er mit Sicherheit noch ein Weilchen drangehängt. Aber einer wie Vettel ist nicht im Sport, um hinterher zu fahren. Das entspricht nicht dem Anspruch, den er mit seinem unbändigen Ehrgeiz an sich selbst stellt.
In gewisser Weise ist er das Opfer vom ganz besonderen Mikrokosmos Formel 1 geworden. Denn die Szene ist bekannt dafür, sich selbst in die Tasche zu lügen. So haben sie Vettel bei Aston Martin glaubwürdig verkauft, dass das einstige Jordan-Team dank der Millioneninvestitionen auf den aufsteigenden Ast komme und den Anschluss an die Spitze schaffen würde. Vettel war wirklich davon überzeugt, dass er seinen Teil dazu beitragen und mit den Grünen wieder gewinnen könne.
Doch diverse Fehlentscheidungen des neuen Besitzers Lawrence Stroll haben dazu geführt, dass dessen ehrgeizige Pläne nie in die Tat umgesetzt werden konnten. Allen voran die Verpflichtung des ehemaligen McLaren-Geschäftsführers Martin Whitmarsh als übergeordneten Markenchef. Der Engländer ist zwar ein exzellenter Verkäufer seiner selbst. Doch seine Vorstellungen davon, dass man ein Rennteam wie einen Großkonzern führen müsse, haben schon dafür gesagt, dass bei McLaren eine Abwärtsspirale in Gang kam. Bei Aston erstickten sie jeden Fortschritt im Keim. Denn ein Rennstall lebt maßgeblich von kurzen Entscheidungswegen und klaren Strukturen. Jede Konferenz und jede Matrixebene in der Hierarchie sind in der schnelllebigen Motorsportwelt ein unnützer Hemmschuh.
Aston hat zwei verschiedene technische Wege beschritten, beide erwiesen sich als Rohrkrepierer. Das ist Vettel inzwischen auch aufgegangen. Und er hat die Ausweglosigkeit des Unterfangens erkannt. Zudem haben sich in seinem Leben die Prioritäten verschoben – wie es so oft passiert, wenn ein Mensch älter und obendrein noch Elternteil wird. Der ganz normale Reifeprozess hat dazu geführt, dass Vettel sich mehr für Umwelt- und soziale Themen interessiert als früher. Als Jüngling ging es in seinem Leben immer nur um Rennsport – oder genauer gesagt: ums Gewinnen. „Das Weltmeister-Gen“ – so sagt man im Formel 1-Fahrerlager. Die Teamchefs und Verantwortungsträger verorten bei jungen Fahrern schon in den Nachwuchsformeln, wer den unbändigen Ehrgeiz und kompromisslosen Siegeswillen in sich trägt – und wer nicht. Nur wer mit dem „Weltmeister-Gen“ auffällt, kriegt überhaupt eine Chance – und nur wer diese Erbanlagen dann wirklich konsequent auslebt und durchzieht, gewinnt Grands Prix und Titel.
Bei Vettel gab es nie einen Zweifel, dass er die dazu nötige Kompromisslosigkeit besitzt. Seit Kind schon hat er alles dem Motorsport untergeordnet; Schwäche zeigen war verpönt, Kritik mündete auch schon Mal in Tränen.
Gleichzeitig hatte er allerdings schon als Formel 1-Novize die geistige Kapazität, sich mit anderen Themen zu befassen. Das fiel auf, als wir zwischen den Rennen von Schanghai und Fuji mal ein paar Tage in Tokio zusammen verbrachten: Da wollte er auf den berühmten Fischmarkt und saugte im Elektronikviertel Akihabara meine Kenntnis über Sonderpressungen von Musikalben für den japanischen Markt auf. Als Abba-Fan stöberte er in den Regalen nach solchen Raritäten aus alten Zeiten, in denen man Musik noch auf Plattenteller legte.
Da war schon absehbar, dass Vettel nicht so eindimensional gepolt ist wie etwa ein Max Verstappen – dass er seine geistige Kapazität aber so genau kanalisieren kann, dass sie immer dann zu 100 Prozent für die Formel 1 genutzt wurde, wenn das nötig war. Dass daraus jetzt ein Umwelt- und Nachhaltigkeitsbewusstsein geworden ist, überrascht vor diesem Hintergrund nicht. Und im selben Maße, wie die sportliche Lage sich immer weiter verdüsterte, verschob Vettel die Prioritäten hin zu Familie und Umwelt. Auf Dauer konnte das nicht gutgehen: Ein Grüner im Grünen.
Manch’ einer hätte aus dem Aston Martin womöglich sogar mehr rausgeholt als Vettel. Doch der Hesse ist ein Fahrer, der immer erst dann schnell wird, wenn er genau durchblickt hat, wie ein Wagen flott bewegt werden will. Solange ihm das nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist, kann er sein fahrerisches Talent und seine Wagenbeherrschung nicht voll ausschöpfen. Bei dem heiklen Aston Martin hat sich dieser Heureka-Moment, in dem der Knoten platzt, nie eingestellt. Vettel blieb stets hinter den eigenen Möglichkeiten zurück – und nicht nur hinter den eigenen Erwartungen.
Der Rücktritt ist folgerichtig. Aber er kommt zu spät, um noch ein würdevoller Ausstieg zu sein. Vettel geht es wie so vielen vor ihm, auch seinem großen Idol Michael Schumacher: Er hat vor lauter Begeisterung für die Formel 1 und den unerschütterlichen Glauben an weitere Siege den optimalen Zeitpunkt für den Absprung verpasst.