22.12.2022
Vor der Rallye Dakar 2023 schwingt im Autolager eine gehörige Portion Unsicherheit mit. Kann irgendjemand die Übermacht von Audi brechen? Die Ingolstädter kommen mit einem Elektroauto, das von einem Benzinmotor bei voller Fahrt aufgeladen wird, seinen Allradantrieb aber über E-Motoren auf den Boden bringen.
Das Konzept klingt schräg, ist aber aus rein sportlicher Sicht in der Wüste ein Garant für Erfolg. Denn E-Motoren sprechen sofort an, sobald der Fahrer aufs Gas tritt. Es gibt kein Verzögerung bei der Gasannahme, wie sie in einem Verbrennungsmotor aufgrund der bewegten Teile unausweichlich ist. Im tiefen Wüstensand, der vor allem die zweite Woche der Dakar im Januar dominieren wird, ist dieser spontane Antritt mit hohem Drehmoment – also tierischer Durchzugskraft – ein unermesslicher Vorteil für die drei Audi-Fahrer Stéphane Peterhansel, Matias Ekström und Carlos Sainz.
Bei der Rallye Marokko, dem vorletzten Lauf zur Marathon-WM, fuhr Audi schon zur Probe mit – mit dem neuen Auto, das für 2023 entwickelt worden ist und alle Ressourcen in Ingolstadt band, weswegen sogar die geplante Le Mans-Rückkehr mit einem LMDh-Wagen aus Finanzgründen abgeblasen werden musste. Die E-Tron liefen in Nordafrika schon nach den neuen Regeln bzw. Einstufungen, die auch bei der Dakar gelten werden – während Nasser Al-Attiyah als Titelverteidiger und WM-Anwärter noch nach alten Regeln fuhr, um den WM-Titel zu holen.
Der Vergleich hinkt also. Und er ist schwer zu ziehen. Denn das Audi-Trio fuhr quasi als Gaststarter außer Konkurrenz mit, weil es in einer anderen Einstufung unterwegs war. Deswegen tauchte es in den offiziellen Ergebnisstatistiken nicht auf.
Natürlich kennt der Fachmann trotzdem Mittel und Wege, anhand von Zwischenzeiten und sonstigen internen Statistiken das Kräfteverhältnis auszulesen – und mit Hilfe von Zeugenaussagen auch zu interpretieren. Dabei kam raus: Die Audi sind klar die schnellsten Autos – und erreichten ihre Zeiten in Marokko auch noch mit vorsichtiger, materialschonender Fahrweise. Zwar sind die Neuwagen deutlich leichter geworden als die Erstlinge, sodass die Aufhängungen nun keine Achillesferse mehr darstellen dürften. Trotzdem gingen die Fahrer in Nordafrika noch nur selten ans Limit. Übliche Test- und Vorbereitungsarbeit für die härteste Rallye der Welt also.
Die Art und Weise, wie vor allem Ekström seine Zeiten in Marokko erzielte, zeigt: Die Audi sind derart überlegen, dass sie sogar noch Luft nach oben haben, wenn sie im Ernstfall mal die Gangart forcieren müssen. Audi kann die Dakar 2023 also eigentlich nur verlieren. Einen Sieg kann man als Normalfall verbuchen.
Dahinter gibt es eine neue BoP-Einstufung für die turbobewehrten Modelle von Toyota und Prodrive. Die Analyse von Testfahrten und Rallyes zeigt: Die südafrikanischen und englischen Boliden sind so sehr auf Augenhöhe eingestuft wie noch nie. Sie kämpfen mit offenem Visier auf Augenhöhe.
Um die Dakar spannend zu machen und zu halten, fehlt nun nur noch eine passende BoP-Einstufung der Audi. Die müssen eingefangen und auf ein Niveau mit Toyota und Prodrive gebracht werden. Was wegen der verschiedenen Motor- und Antriebskonzepte nicht einfach ist. Die Gemengelage erinnert an den Einstieg von Seat mit dem Turbodiesel-Leon in die Tourenwagen-WM. Auch der Selbstzünder konnte im Vergleich zu den Ottomotoren etwa von BMW nicht fair eingestuft werden. Wiederholt sich in der Wüste die Geschichte?
Entscheidend wird sein, wie die FIA-Funktionäre arbeiten: mit einer reaktiven BoP – oder mit einer proaktiven? Der Langstreckensport auf der Rundstrecke macht in den letzten Monaten vor, wie's gehen kann: Die SRO-Organisation, welche die diversen GT3-Serien ausrichtet, arbeitet proaktiv, also vorausschauend. Dazu schaut man nicht auf das Ergebnis des vorhergegangen Rennens – sondern auf die Hackordnung auf vergleichbaren Strecken. Denn es brächte nichts, das Resultat von Monza für eine Einstufung für etwa Oschersleben zugrunde zu legen, dazu sind die Anforderungen der Pistenlayouts zu untershiedlich. Die SRO unterteilt die GT3-Strecken in vier Typen und nimmt für die BoP-Ausgangslage jeweils das Wissen von den letzten Läufen auf einer Piste gleichen Typs als Grundlage.
Das System funktioniert. Auch, weil Ausreißer, die geblufft haben, gnadenlos zurückgebunden werden, sodass sich das berühmt-berüchtigte Sandbagging nicht lohnt.
Der ACO, der die Sportwagen-WM und Le Mans ausrichtet, agiert reaktiv, indem er immer das letzte Resultat als Richtwert für die Einstufung für die nächste Rennstrecke hernimmt. Dieser starre Richtwert sorgt immer wieder für Verdruss im Lager der GT-Fraktion.
Wenn die FIA bei der Dakar ihre Messbescheide auch reaktiv ausstellt, droht das große Gähnen. Die Funktionäre behalten sich zwar ausdrücklich das Recht vor, die BoP-Einstufung jeden Tag zu ändern. Doch geschieht das dann stets auf der Grundlage des Vortagesresultats. Wenn die FIA nach zwei Etappen zum ersten Mal bemerkt, die Audi seien zu schnell – dann haben die an der Spitze schon einen gehörigen Vorsprung. Und bei einer reaktiven BoP-Veränderung werden die Elektrohybridzwitter auch nur so weit zurückgestuft, dass sie gleich schnell mit den Turbobenzinern aus Kyalami und Banbury sind – und nicht etwa bewusst langsamer gemacht als die Gegnerschaft.
Das wäre dem einzigen reinrassigen Herstellerteam im Feld nicht vermittelbar.
Im dümmsten Fall würden die Funktionäre die Abstände nach einer zu erwartenden Audi-Dominanz in der Anfangsphase einfach nur einfrieren und die Rallye zu einer statischen Wettfahrt degradieren. Die Donaustädter könnten sich dann darauf verlegen, ihren ein Mal erarbeiteten Vorsprung zu verwalten – dann im locker-flockig runtergefahrenen Marokko-Stil.
Unter Umständen ist der ganz besondere Charakter der Dakar der größte Hoffnungsschimmer. Denn die Rallye funktioniert anders als jede andere Motorsportdisziplin: Die ganze Härte von Gelände und Elementen macht sie nicht planbar, jederzeit kann alles passieren. Diese Unwägbarkeit mag schwerer wiegen als ein BoP-Geplänkel.
Besser wär's allerdings, man müsste sich darauf nicht verlassen, sondern begönne gleich mit einem Dreikampf auf Augenhöhe.
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