25.10.2024
Reisen nach Mexiko haben immer einen gewissen Abenteuerfaktor. Das liegt an Montezumas Rache. So heißt – zumindest in Motorsportkreisen schon seit den Achtzigern – eine typische Durchfallerkrankung, die sich europäische Mägen dank der ungewohnten Lebensmittelqualität und -zubereitung in Mittelamerika gern mal zuziehen. Kaum ein Team, in dem nicht bei jedem Rennen in Mexiko mindestens ein Mechaniker oder Ingenieur ausfällt, weil er mit kneifenden Magenkrämpfen und zischenden Toilettengängen im Hotelzimmer bleiben muss. Und zwar tagelang. Meist sieht man die von der Rache betroffenen erst nach dem Rennwochenende am Flughafen wieder, deutlich abgemagert, reichlich blass um die Nase und mit immer noch verkniffenem Blick.
Wohl dem, der weltgewandte Freunde hat, die es gut mit einem meinen. In unserem Fall, vor unserer ersten Mexiko-Reise, war Franz Konrad der beste Ratgeber – ein gebürtiger Grazer, der seit seinem Einstieg als Rennfahrer vor mehr als 40 Jahren in Verl bei Gütersloh zuhause ist, seit Jahrzehnten ein eigenes Sportwagenlangstreckenteam hat und ein echtes Faktotum in der deutschen Motorsportszene darstellt. Es gibt nichts, was Franz Konrad in seiner langen Karriere noch nicht erlebt hätte; keine Flausen im Kopf, die er nicht ausgelebt, und keine Tricks auf und neben der Piste, die er noch nicht angewandt hätte.
Da nimmt es nicht Wunder, dass ausgerechnet das charmante Schlitzohr vor einer Reise zur Tourenwagen-WM nach Puebla, eine Kleinstadt am Fuß des Vulkans Popocatépetl, den Rat des Jahrzehnts in petto hat: „Du musst einfach vor jedem Essen ein großes Glas Tequila trinken, dann kann Montezumas Rache Dir gar nichts.“
Gesagt, getan – im Duty Free-Shop am Benito-Juárez-International Airport von Mexiko-Stadt führt der Weg nach dem langen Überseeflug direkt in den Dutyfreeshop; Puebla wird folgerichtig schon vor dem Frühstück dem Tequila zugesprochen; für die langen Tage an der Rennstrecke befüllt man einen eigens dafür mitgebrachten Flachmann und führt den vorm Mittagessen heimlich zum Hals; man muss nur das Gefühl unterdrücken, man benehme sich gerade wie der letzte Clochard. Und abends im Hotel zecht man vorglühend munter weiter.
Konrads Rat erweist sich als goldrichtig: Selbst Rohkostarten, von denen man sonst wegen des Einsatzes von Trinkwasser zum Salatputzen tunlichst die Finger lassen sollte, können dem tequilagestählten Verdauungstrakt nichts anhaben. Während sich im Laufe der drei Renntage die Reihen bei den Teams, aber auch unter den Journalisten sichtlich lichten, kann man selbst mit voller Kraft der Arbeit nachgehen. Hin und wieder ungewohnt beschwingt zwar – aber immerhin gesund.
Man kann nur hoffen, dass an diesem Wochenende auch alle Kollegen ihre Sinne und Kräfte beisammen haben. Denn der Anteil an grobem Unfug, der in der entscheidenden Phase von den Teamchefs und leitenden Ingenieuren uns gegenüber verzapft wird, ist gerade überproportional hoch. Einerseits über die technischen Kniffe wie etwa den höhenverstellbaren vorderen Unterboden, mit dem Red Bull vor Austin gerade erst auffällig geworden ist. Vor allem aber über die mentale Stabilität und Belastbarkeit der Rennfahrer.
Lando Norris hat den Stein losgetreten, indem er gestanden hat, er sei vor den Rennen derart nervös, dass er sich tagelang unwohl fühle und kaum etwas essen könne. Woraufhin Red Bull-Motorsportberater Dr. Helmut Marko konterte, dann sei Norris wohl nicht hart und belastbar genug für den WM-Titel. Was wiederum einen beleidigten Konter von McLaren-Boss Andrea Stella nach sich zog, Dr. Marko hätte die Zeichen der Zeit nicht erkannt.
Da kann man nur sagen: danke, gleichfalls. Natürlich hat in den letzten Jahren das Bewusstsein und die Akzeptanz von mentalen Problemen in der breiten Öffentlichkeit zugenommen. In England gibt es den „Mental Health Day“ und das geflügelte Wort, „It’s okay to be not okay“. Aber im Sport kann so etwas nicht gelten. Man darf Spitzensportler nicht mit den Maßstäben normaler Arbeitnehmer messen. Kein Formel 1-Fahrer treibt seinen Sport als Hobby wie ein Kreisligaboßler oder -fußballer. Wer sich in dieser absoluten Leistungsgesellschaft durchsetzen will, darf keine Skrupel kennen – und auch keine Schwächen eingestehen. Wenn er Probleme etwa mit der psychologischen Belastbarkeit hat, dann muss er die über einen Sportpsychologen ausmerzen. Sonst wird ihm immer das letzten Bisschen fehlen – das entscheidend ist, um Weltmeister zu werden.
Austin war der beste Beweis, dass Dr. Marko recht hat – und nicht die klageführenden McLaren-Leute. Als Verstappen Norris ausstiegen ließ und in die Auslaufzone zwang, da war klar: Norris wird auf Verstappen wieder mehr Punkte einbüßen. Da hätte er anders reagieren müssen als einfach nur die Lenkung aufzumachen und strafwürdig durch die asphaltierte Auslaufzone zu eiern. Ihm hätte in der Sekunde am Lenkrad klar sein müssen: „Der Kampf gegen Verstappen ist jetzt eh’ verloren – also sorge ich dafür, dass er so was nicht noch mal macht.“ Und dann hätte er nicht nachgeben dürfen, sondern sein Auto stur auf Kurs halten müssen.
Ja, dann hätte es gescheppert, und wahrscheinlich wären beide ausgefallen. Aber Norris hätte einerseits gezeigt, dass er nicht jedes rüde Manöver wehrlos über sich ergehen lässt. Und er hätte den Punkterückstand wenigstens stabil gehalten. Jetzt aber ist er auf ein torentscheidendes Maß angewachsen.
Klingt unsportlich? Ist es auch. Aber an jedem beliebigen Samstag wird in der Bundesliga und sonntags auch auf jedem Bezirks- und Kreisligafußballplatz immer gefoult, in den allermeisten Fällen regt sich niemand darüber länger auf als der Schmerz des von den Beinen Geholten andauert. Rüde Attacken und robuste Gegenwehr gehören zwingend zum Sport dazu. Von Ayrton Senna über Michael Schumacher bis hin zu Sebastian Vettel und Lewis Hamilton haben so auch alle Formel 1-Weltmeister von Rang und Namen irgendwann mal ihre Claims abgesteckt. Auch Verstappen. Der ist immer noch munter dabei, seine Gegner einzuschüchtern.
Seit Austin weiß er: Norris ist für ihn kein ebenbürtiger Rivale. Dazu fehlt ihm die nötige Härte.
Dabei muss der Engländer eigentlich gar nicht so weit schauen wie zu den Beispielen aus der Formel 1-Historie. Oder in die NASCAR, wo der raubeinige Dale Earnhardt seine Gegner in den Achtzigern und Neunzigern derart ins Bockshorn jagte, dass er nur „The Intimidator“ heißt: der Bedrohliche. Bei den Tourenwagen gab’s Yvan Muller, aus gutem Grund „Yvan der Schreckliche“ genannt. Und heute? Muss Norris auf einen Landsmann aus der Speedway-WM schauen: Vizeweltmeister Robert Lambert, 26 und aus Sandringham, nennt sich auf Twitter selbst „RuthlessLambert“ – Lambert der Ruchlose also. Weil er – anders als Norris – die Zeiten der Zeit erkannt hat.
Und an Franz Konrad kam früher auch kein Gegner einfach so vorbei, ohne nicht mindestens Ellenbogen und Krallen tüchtig ausfahren zu müssen.