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10.11.2022

Über den Tellerrand


Es gibt ein neues Zauberwort unter Formel 1-Technikern: „radnaher Abtrieb“. Das sei die neue harte Währung bei der Konstruktion von Grand Prix-Boliden.

Um zu verstehen, was damit gemeint ist, lohnt an diesem Wochenende ein Blick über den Tellerrand: nach Bahrein, einer Insel im Persischen Golf. Auf der dortigen Grand Prix-Strecke in der Steinwüste von Sakhir findet das Finale der Sportwagen-Langstrecken-WM statt – mit Autos, die einem anderen Reglement gehorchen als Formel 1-Boliden.

Die Hypercars von Toyota und Peugeot weisen Kotflügel und vollflächige Karosserien auf. Ihre Konstruktion wird bestimmt von sogenannten „Leistungsfenstern“: In den Bereichen Aerodynamik, Motor, Hybridsystem und Fahrwerk sind die Eckdaten so eng gefasst, dass die Wagen auf ein vergleichbares Niveau kommen. Gleichzeitig erlaubt diese Staffelung aber weitgehende Freiheiten bei der Gestaltung der Modelle – sodass der Toyota völlig anders aussieht als der Peugeot.

Der auffälligste Unterschied: Der 9x8 aus Frankreich kommt ohne Heckflügel aus, während der GR010 aus Köln-Marsdorf gebaut ist wie ein klassischer Rennwagen. Peugeot baut stattdessen auf verstellbare Spoiler und Leitwerke in den Kotflügeln und unter der Front. Damit streben die Franzosen nach genau jenem radnahen Abtrieb, über den gerade alle reden.

Der bedeutet im Groben: Man muss das Auto dort auf den Boden pressen oder saugen, wo sich auch die Räder drehen – und nicht mehr so sehr in der Wagenmitte wie mit klassischen Spoilern, Flügen und Unterflur-Diffusoren. Denn wenn man es schafft, bei oder in der Nähe eines jeden Rades ein eigenes Druckzentrum zu schaffen – dann wird jedes Rad mit genau jener Last nach unten gedrückt, das für es optimal ist. Und dann geht genau so viel Kraft in den zugehörigen Reifen, dass der in Konstruktion und Gummiauflage auf die bestmögliche Temperatur gebracht und gehalten wird. Die Kraft, die über den Anpressdruck auf den Reifen wirkt, heizt ihn durch; der Abtrieb verhindert gleichzeitig unbotmäßig viel Schlupf – sprich: Durchdrehen – des Rades, sodass der Verschleiß minimiert wird. Das Auto rutscht weniger – und es rupft auch weniger am Pneu.

Das bringt auf eine einzelne Runde gesehen keinen Zeitenvorteil. Stattdessen bleiben die Rundenzeiten über einen Törn – also solange ein Satz Reifen bis zum nächsten Boxenstopp am Auto bleibt – konstant. Sie werden nicht mehr um so viel langsamer wie bei Autos mit normaler Abtriebskonfiguration.

Radnaher Abtrieb ist im Sportwagenbereich entscheidend, weil dort die Reifen nicht bei jedem Boxenstopp gewechselt werden. Dreifachtörns sind die Norm. Je länger man hinten raus vergleichbare Zeiten fahren kann wie auf frischen Reifen, desto mehr kann diese Taktik aufgehen. Deswegen ist die Langstreckenszene mit ihren Hypercars Schrittmacher bei dieser neuen Herangehensweise an den Rennwagenbau.

In der Formel 1 ist alles extremer. Die „Peak Performance“ der Reifen, also das Ausquetschen von frischem Gummi, ebenso wie der „Drop“ – so nennt man den Abbau und dem damit verbundenen Anstieg der Rundenzeit. Wer den Drop minimieren kann, hat schon die halbe Fuhre Heu im Schober.

Die Möglichkeiten, radnahen Abtrieb zu erzeugen, sind in der Formel 1 begrenzt. Denn die Räder stehen frei. Also kann man keine Flügelchen oder Leitwerke so unterbringen wie etwa Peugeot in den hinteren Radkästen des 9x8-Hypercar.

Trotzdem gibt es bei der Reifennutzung schon große Unterschiede: Die Red Bull von Max Verstappen und Sergio Pérez nehmen die Reifen deutlich weniger hart ran als die Ferrari von Charles Leclerc und Carlos Sainz jr. Das erreicht man unter anderem über die Gewichtsverteilung zwischen Vorder- und Hinterwagen. Der Anteil der Mechanik auf die Reifennutzung ist höher als bei den Le Mans-Sportwagen. Aber auch die Luftführung spielt zu großen Teilen mit rein: indem man durch aerodynamische Anbauten wie Luftteiler Unterdruckzonen schafft, die Luft gezielt verwirbelt und so entweder aus kritischen Zonen förmlich herausbläst oder sie zum Abdichten des Unterbodens nutzt. Vor allem der Bereich hinter den Rädern steht dabei im Fadenkreuz.

Die Lehren aus dem ersten Jahr der neuen Abtriebsautogeneration in der Formel 1 lauten: Man muss sich mehr darauf versteifen, die Druckzentren des Abtriebs zu dezentralisieren und an die Ecken des Fahrzeugs zu legen. Red Bull hat das eher erkannt als Ferrari, Mercedes war mit der ersten Interpretation des neuen Konzepts auf dem komplett falschen Dampfer.

Das Schöne an der Formel 1 ist: Die Erkenntnis greift im Fahrerlager rasch um sich. Allein durch Beobachten und Analysieren der Gegner erkennen die Ingenieure oft schon, was sie anders machen müssen. Das Entwicklungstempo und die Verbesserungsraten sind in keinem Sport derart rasant wie in der Formel 1. Daraus bezieht die Königsklasse einen Großteil ihrer Faszination.

Zugegeben, die zweite Saisonhälfte 2022 war langweilig bis an die Tristessegrenze, weil Verstappen alle in Grund und Boden gerammt hat. Aber die Zeichen der Zeit von der Langstrecke, die auch in der Formel 1 genau beobachtet wird, werden dafür sorgen, dass ein Wettrüsten im Kampf der Konzepte eingesetzt hat. Die Autos werden dadurch in Zukunft wieder enger beisammen liegen – vorausgesetzt, die Ingenieure setzen das Gelernte richtig um.

Ein Dreikampf zwischen Red Bull, Ferrari und Mercedes erscheint für 2023 durchaus realistisch.


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