16.07.2020
Na, da hat Valtteri Bottas ja richtig was gekonnt. Plötzlich droht Quarantänebrechern an diesem Wochenende beim Grand Prix von Ungarn sogar Knast – weil die Ungarn durch die Eskapaden von WM-Tabellenführer Bottas nach dem ersten Rennen für die laxe Haltung von Teilen der Formel 1 sensibilisiert worden sind.
Zwischen den beiden ersten Formel 1-Rennen in Spielberg ist der Finne für zwei Tage heim nach Monte Carlo gereist, genau wie auch Ferraristi Charles Leclerc.
Das wäre an sich nicht erwähnenswert – wenn nicht gerade Corona die Welt beherrschen würde. Der Automobilweltverband FIA hat einen 81 Seiten langen Leitfaden herausgegeben, in dem genau geregelt ist, wie die Motorsportler sich generell an der Rennstrecke und auch bei der Unterbringung und nach Feierabend an den Rennwochenenden zu verhalten haben.
Die Richtlinien beinhalten die Anzahl der Teste – einen vor Betreten des Fahrerlagers, dann alle fünf Tage – ebenso wie die Aufteilung in je eine abgetrennte Warf pro Wagencrew und die darin noch weiter einzuhaltende Kleingruppendefinition, in die sich alle Teams intern aufteilen müssen, um zu weitläufige Kontakte zu vermeiden oder wie die Laufwege und -richtungen, die in den Boxen und Teamzelten eingehalten werden müssen. Das Konzept ist höchst detailreich. Wer genau erfahren möchte, wie es ausgearbeitet und umgesetzt wird – dazu haben wir auf http://www.pitwalk.de einen Podcast mit Prof. Dr. Frank Mayer, dem Chef der Uniklinik Potsdam, der für den DOSB und für Porsche mit Coronakonzepten befasst war und auch das FIA-Papier aus erster Hand kennt. Er erklärt in dem Podcast ganz genau, was wann wo warum gemacht werden muss.
Neben den 81 Seiten, die hier natürlich vorliegen, gibt es noch eigene sogenannte „Covid-19 Delegate’s Notes“, jeweils individuell für jedes Rennen. Sie regeln nach, was die jeweiligen regionalen und landesweiten Verordnungen für jeden Rennort nötig machen. Für Österreich stand darin geschrieben, dass man einen Radius von 30 Kilometer um Spielberg nicht verlassen sollte.
Alle Maßnahmen verfolgen nur ein Ziel: Es soll tunlichst niemand mit Coronaviren als blinde Passagiere im Körper ins Fahrerlager kommen und dort als Patient Null die Seuche verbreiten können.
Leclerc und Bottas mochten sich daran nicht halten. Also ausgerechnet die beiden damals noch Erstplatzierten in der WM.
Die Nachlässigkeit war schon am vergangenen Wochenende beim zweiten Alpenrennen bekannt. Doch die Veranstalter und erst recht die betroffenen Teams Mercedes und Ferrari haben sich größte Mühe gegeben, den Deckel drauf zu halten. Denn allen war klar: Die Formel 1 beansprucht für sich selbst eine Vorbildfunktion – für alle anderen Sportarten, für die Wirtschaft, für die Gesellschaft. Sie zeigt das mit großen Gesten – teils übertriebenen wie den Robotern, auf denen die Pokale bei den sterilisierten Siegerehrungen herbeikarren. Und dann führen ausgerechnet die ersten Zwei der Tabelle alles absurdum.
Ohne Not noch dazu: Es ging um zwei Tage, die man in durchaus gemütlichen Hotels in der Steiermark hätte verbringen sollen. Nicht etwa in abgehalfterten Häusern etwa bei Granollers rund um den Circuit de Catalunya. Man hätte es verkraften können.
Wohlgemerkt: Bei allen Maßnahmen und auch den Bedenken über das Verhalten der Grand Prix-Stars geht es nicht um eine Furcht, dass plötzlich alle Motorsportler wegen Covid-19 schlagartig tot umfallen. Vielmehr geht es um die Außenwirkung – und vor allem die Folgen, die solch’ eine Leichtfertigkeit nach sich ziehen kann. Denn es gibt im Rennsport nicht nur die Formel 1. Aktuell kämpfen etwa die Ausrichter aller großen europäischen 24-Stundenrennen um ihre Ausweichtermine im Altweibersommer oder Herbst: Le Mans, Nürburgring und Spa. Alle neuen Termine sind kommuniziert – aber für keinen gibt es auch schon die tatsächliche behördliche Genehmigung. Wenn Politiker oder Beamte jetzt sehen: „Die Formel 1-Macher denken sich ein Konzept aus, das gut klingt – aber längst nicht jeder hält sich im Alltag auch dran“ – dann ist der Schritt zur behördlichen vorsorglichen Absage aus Sicherheitsgründen nicht mehr weit.
Veranstalter wie der ACO in Le Mans oder die SRO für Spa haben sich aufwändige Konzepte erdacht, bis hin zu einer Aufteilung der Zuschauerbereiche in Fandörfer zu höchstens je 5.000 Einwohner fürs Le Mans-Wochenende, um so eine Trennung und eine Nachverfolgbarkeit schaffen zu können. International stehen solche Konzepte, im deutschen Motorsport klappt erstaunlich wenig. Da müsste man nachlegen, wenn man das 24-Stundenrennen retten will.
Sofern man es denn überhaupt will, aber das ist ein anderes Thema.
Absagen muss man sowieso noch fürchten. Denn Übersprungshandlungen der offiziellen Stellen werden wahrscheinlicher, je mehr Fälle wie in Jheringsfehn, auf Schlachthöfen oder gar Mallorce ruchbar werden. Das laxe Verhalten von Formel 1-Fahrern, die eigentlich als Idole auch eine Vorbildfunktion haben sollten, steigert dessen Wahrscheinlichkeit unverhältnismäßig: Das schlechte Vorbild geht voran – und es fällt stets mehr auf als ein gutes.
Wenn Events wie die 24-Stundenrennen abgesagt werden, trifft das dann nicht nur ein paar wenige Rennställe wie in der Formel 1 – sondern hunderte kleinere aus ganz Europa. Von denen würden viele ein Jahr ohne jenes Langstreckenrennen, bei dem sie den Großteil ihrer Werbe- und Fahrermieteinnahme generieren, nicht überstehen.
Sollen die sich dann an eine Bottas-&-Leclerc-Stiftung wenden?
Bottas hat sich mit seiner Zweitagesreise ins Fürstentum ganz nebenbei noch die persönliche Niederlage eingebrockt: Während der Finne frei machte, stürzte sich der ordnungsgemäß in Österreich beim Team gebliebene Teamkollege Lewis Hamilton im Hotel in die Arbeit mit seinem Ingenieursstab. Mit dem Resultat, dass er jene Teile der Bottas’schen Abstimmung vom ersten Wochenende übernahm, die er selbst zum Auftakt noch übersehen hatte. Prompt kam er mit dem hinten neu gedämpften Silberpfeilfahrwerk besser klar – und war erstmals schneller als Bottas. Man könnte auch sagen: Bottas hat sich den Ball auf den Elfmeterpunkt gelegt – und ist dann duschen gegangen. So kann man sich natürlich auch eine Niederlage einbrocken.
Natürlich muss man in der Gesamtheit der Betrachtung auch berücksichtigen: Sowohl Bottas als auch Leclerc fahren für börsennotierte Großkonzerne. Damit öffnet sich eine Tragweite, die weit über die Tochterfirmen hinausgehen, die als Rennteam im Fahrerlager arbeiten. Konzerne haben strikte Compliance- und Health & Safety-Regeln.
Bei Ferrari herrscht sowieso das Chaos. Da braucht man nicht nachzufragen. Aber die Daimler AG ist traditionell besonders auf Compliance erpicht. Also erkundigt man sich natürlich persönlich bei der Konzernpressestelle, wie das mit Bottas’ Aktion zusammenpasst.
Eine erste Frage verhallt unbeantwortet.
Auf Nachhaken kommt die Antwort: „Wir sehen keinerlei Fehlverhalten bei Valtteri Bottas.“
Drei weitere konkrete Fragen bleiben unbeantwortet, auch nach zweitem Nachhaken.
Es ist ein lautes Schweigen, das da aus Untertürkheim dringt.